Dienstag, 20. Oktober 2009

Wikipedia-Schmäh, Fefe und Co.

Derzeit läuft insbesondere in der Blogosphäre eine Art Anti-Wikipedia-Welle herum, die sich insbesondere über die leidlichen Relevanzkriterien des größten Web 2.0-Projektes der Menschheit echauffiert. Auslöser war wohl die kürzliche und ausgesprochen fragwürdige Löschung des Artikels über den Verein "MOGIS", die für ordentlich Negativschlagzeilen in den Medien sorgte.

Gegen die Relevanz-Diskussion im Allgemeinen und Speziellen ist nichts einzuwenden - schon seit Jahren tobt der interne Kampf zwischen sogenannten Inklusionisten, also Mitarbeitern, die gern mehr Wissen, auch zu weniger klassisch-relevanten Themen, in der Wikipedia hätten und sich für das Motto "Verbessern statt Löschen" stark machen, und den Deletionisten (anscheinend abwertend für "Exklusionist"), die das Löschen von vermeintlichem oder tatsächlich Irrelevantem vorziehen. Die Diskussion an sich kommt zu keinem Ende, eine echte Lösung ist zwischen den zahlreichen Kompromissen nicht in Sicht und ist angesichts des massiven bürokratischen Overheads der Wikipedia auch nicht ohne weiteres vorstellbar.

Umso mehr ärgert mich die Art, wie die Diskussion jetzt ausserhalb der Wikipedia geführt wird. Billigste Polemik. Schmählichste Hetze, von "Geschichtsrevisionismus"(!, Fefe) ist die Rede. Vorallem die Pauschalisierung der Mitarbeiterschar und die Reduzierung auf "Nazi-Blockwarte" ist unter aller Sau, und der sonst so intellektualisierten Blogosphäre nicht angemessen. Vielmehr reduziert diese Verallgemeinerung die Tausenden aktiven und inaktiven Mitarbeiter die die Wikipedia zum Nummer Eins Nachschlagewerk im Internet machen und gemacht haben - ganz ohne Beschränkung der Allgemeinheit - zu debilen Dilettanten, die in ihrer Traumwelt leben und der Welt ihren Willen aufzwingen wollen.

Diese Sicht zeugt von Faulheit. Diejenigen haben nicht die Zeit oder die Lust, sich mit den Interna zu beschäftigen bevor sie ihren unqualifizierten, geistigen Dünnpfiff absondern - klar, ich sehe ein, dass es sehr schwer ist, in die Wikipedia abseits des Artikelnamensraumes einzusteigen - die Regeln und Konventionen haben mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das aktive, langfristige Mitarbeit erfordert, um sie komplett kennenlernen zu können, doch andere kritische Autoren, wie etwa Herr Freistetter von AstrodictumSimplex schaffen es auch. Speckernd wie die Spatzen wird gefordert, dass "diese Mitarbeiter" doch die eigene Sicht der Dinge zu übernehmen haben, und so rutscht der Argumentationspöbel auf die selbe Stufe, die er der Relevanzdiskussion unterstellt: eine Stufe der Ignoranz. Damit disqualifizieren sich die Diskutanten selbst.

Da wird sich über Verwaltungsvorgänge diebisch gefreut, und in Seitenlöschungen und -schützungen Zeug reininterpretiert, dass es nicht mehr feierlich ist. Wenn ein Lemma, zum Beispiel angeregt von einem vielgelesenen Blogger, innerhalb von 10 Minuten fünfmal gelöscht und neu angelegt wird, wird das Lemma nunmal gesperrt, bis sich ein vernünftiger Artikel ankündigt. Wenn in einem normalen Forum ein Editwar losgeht, wird der Thread auch auf Eis gelegt, bis sich die Sache normalisiert hat - wo ist das Problem?
Da werden uralte, unzusammenhängende Edit-Ketten hervorgeholt und als symptomatisch für das ganze Vorhaben dargestellt. Leute. Das ist ein Wiki mit vielen Millionen Edits - jeder kann mitmachen - der ehrliche, grundanständige Wissenschaftler, der Klassendepp und auch der PR-Manager. Es sind alles Menschen - Stakeholder -, die ihre eigenen Interessen verfolgen, und nicht eure. Und dafür verwenden Sie die Mittel, die sich ihnen bieten. Wem das nicht passt, der muss mit genau den selben Mitteln selbst was dagegen unternehmen, denn Fakt ist: subtiler Vandalismus geht heutzutage mit vielen Hundert Edits pro Minute einfach mal unbesungen zwischen gerechtfertigten Änderungen und offensichtlichem Vandalismus unter - es gibt in der Tat zuwenige "Aufpasser".

Doch zurück zur Blockwart-Polemik und meiner zentralen These:

Die Wikipedia und ihre Belegschaft sind kein monolithischer Koloss.

Nichts, was einen einzelnen Stempel vertragen oder verdienen würde. Es gibt hunderte thematische Expertengruppen, es gibt dynamische und statische, offizielle und inoffizielle Autorenverbände, es gibt tausende Gelegenheitsgenies, es gibt Verwaltungsgruppen, es gibt Hausmeister und Gärtner, und es gibt "Blockwarte". Das alles ist ein extrem fein strukturierter, extrem vielschichtiger Organismus, der in hunderte Richtungen gleichzeitig strebt und sich deshalb nur langsam vorwärts bewegt.
Der Koloss ist demokratisch organisiert - nicht unbeschränkt basisdemokratisch - aber doch zumindest in Form einer Rätedemokratie mit dominierendem plebiszitären Element. Die Richtung ändern kann man. Aber nicht, indem man sich von außen in billigem Spott versteift. Die Wikipedia lebt vom Mitmachen und das externe Lästern über die unverstandenen Wirkmechanismen im Inneren ist noch wertloser als das Metadiskussionsgewäsch innerhalb der Wikipedia selbst.

Also: so Revoluzzer-artig das klingt: Wenn ihr was an der Wikipedia anders haben wollt, dann geht hin, und macht es scheisse-nochmal besser. Aber macht es, wie anderswo auch, unter der Maßgabe der lokalen Netiquette und des Foren-Hausrechts - plumper Vandalismus und blinder Aktionismus bringen nichts, außer einem längeren Sperrlogbuch. Beschäftigt euch mit dem Koloss, versucht, eine Sicht auf das Innere zu erlangen, beteiligt euch an den internen Abstimmungen und Diskussionen. Und wenn sich genügend vernünftige Leute zusammentun, dann ändert sich auch was zum Guten. Und wenn es nur eine qualifizierte, differenzierte Meinung ist, die dabei abfällt.

Links zum Thema, zum Teil referenziert:

(Der Autor dieses Artikels ist langjähriger aktiver Mitarbeiter - kein Admin - der Wikipedia, der Metadiskussionen verabscheut und an AGF und IAR glaubt. Er ist Inklusionist, wie die meisten der hier kritisierten Blogger es wohl wären, wenn sie an der Wikipedia mitarbeiten würden, aber er wünscht sich für diese eine differenzierten Blick auf die Wikipedia.)




Nachtrag: Snippet aus einem anderen Diskussionsfaden: Versuch der Erklärung, warum es manche Lemmas gibt, und manche nicht:


Das Problem ist, dass die WP-Gemeinschaft allergisch auf Werbung und "POV" reagiert. Ein Produkt/Buch/Verein/Partei/Marke/.. soll keinen Wettbewerbsvorteil dadurch erlangen, dass es in der Wikipedia Erwähnung findet. Darauf basieren viele der Relevanzkriterien. Hier greift der Anspruch einer Enzyklopädie - in einer etwas strengeren Form: Existierendes soll beschrieben werden - durch die Beschreibung soll sich der Artikelgegenstand möglichst nicht verändern (etwa iSv gesteigerter kommerzieller Bekanntheit).

Aus diesem Grund haben es bestimmte Lemma-Gruppen per definition schwerer als andere: gäbe es Bauchnabelfussel von verschiedenen Herstellern, stünde man vorm selben Relevanzproblem, wie es oben beschrieben ist. Aber Bauchnabelfussel ist ein kommerzneutraler Gattungsbegriff und hat deshalb keinen Wettbewerbsdruck zu befürchten. Es fühlt sich komisch an, dass am Beispiel Bauchnabelfussel zu schreiben, aber naja, was will man machen - hoffentlich wird es trotzdem klar :D

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